- Mittelalter: Kunstwerke als Zeitzeugen
- Mittelalter: Kunstwerke als ZeitzeugenWerke wie die Reichskrone und die anderen Reichsinsignien, die Bronzetüren des Hildesheimer Doms, die Essener Goldmadonna, das Reliquiar der heiligen Fides in Conques oder die Textilien von Girona und Bayeux verbinden sich in unserer Vorstellung nicht nur mit der Zeit um 1000, sondern auch mit dem Bild vom Mittelalter schlechthin. Viele dieser Werke, die heute im Dämmerlicht ihrer musealen oder sakralen Inszenierung von einer wachsenden Besucherschar aufgespürt werden, waren schon zur Zeit ihrer Herstellung Schaustücke für die Augen des Volkes oder Ziele der Pilger. Im Bewusstsein der damaligen Zeit gehörten die Goldkreuze, die Evangeliare samt ihren Prachteinbänden und die Reliquiare wegen ihres Sinngehalts, der auf das Jenseits deutete, zum Kostbarsten und Erhabensten, das Menschenhand zu bilden vermochte.Der Blick auf die Kunst der Zeit um 1000 sollte sich nicht allein auf die vergleichsweise umfangreich erhalten gebliebene künstlerische Produktion im Reich der Ottonen - von Heinrich I. über die drei Herrscher mit dem Namen Otto bis Heinrich II. - und der ersten beiden salischen Könige, Konrad II. und Heinrich III., richten. Zwar ist aus den Kunstzentren außerhalb des Heiligen Römischen Reichs weniger überliefert, erinnern oft nur noch bauliche Relikte an den einstigen Glanz. Doch in gewissem Umfang sind auch auf den Britischen Inseln, in Frankreich unter den ersten Kapetingern (der 987 gekrönte Hugo Capet hatte die karolingische Dynastie abgelöst), in Spanien und Italien bedeutende Kunstwerke aus dieser Zeit erhalten geblieben. Von der hohen Bedeutung der Domschule von Chartres, die bereits unter Bischof Fulbert am Beginn des 11. Jahrhunderts ein von Studierenden und Gelehrten aus ganz Europa aufgesuchtes Zentrum der Wissenschaft war, zeugt heute nur noch die Krypta der Kathedrale. Das Kloster Cluny, das schon in den ersten beiden Jahrhunderten nach seiner Gründung (910) prosperierte, gewann als Zentrum der Klosterreform großen politischen Einfluss. Die 985 vollendete Reliquienstatue der heiligen Fides im südfranzösischen Conques ist die früheste vollplastische monumentale Skulptur einer Heiligen; ihr Holzkern ist mit Gold- und Silberblech belegt, das mit Email, Edelsteinen und Bergkristallen verziert ist. In Spanien stand die Kunstproduktion im Zeichen der siegreichen Reconquista, der »Rückeroberung« der muslimischen Gebiete. Zwischen Spanien und Oberitalien gab es einen künstlerischen Austausch, wie die Mailänder Elfenbeine und Stuckarbeiten des späten 10. Jahrhunderts bezeugen.Wenn, wie die Mehrzahl der Forscher vermutet, die Reichskrone aus Anlass der Kaiserkrönung Ottos I. 962 angefertigt wurde, so wäre dies der früheste Beleg für den Aufschwung, den die Goldschmiedekunst unter den Ottonen nahm; sie dürfte - trotz so glanzvoller Werke wie des um 870 entstandenen Arnulf-Ziboriums - die karolingische Goldschmiedekunst überragen. Unter den Bucheinbänden verdient der Deckel des Goldenen Evangelienbuchs aus Echternach hervorgehoben zu werden, der zwischen 983 und 991 auch mit ganzfigurigen Bildern der Kaiserin Theophano und ihres Sohnes Otto III. versehen wurde. Prachteinbände besitzen auch verschiedene Reichenauer Handschriften, die von Heinrich II. nach Bamberg gestiftet wurden, so unter anderem das Evangeliar Ottos III. und das Perikopenbuch Heinrichs II. Die durchbrochene und gravierte Metallplatte, die in den in Regensburg gefertigten Buchdeckel des Sakramentars Heinrichs II. eingelassen ist, zeigt den Autor des Sakramentars, den heiligen Gregor. Erhalten ist auch der Buchkasten des Uta-Kodex (um 1020/30), eine Regensburger Arbeit, deren Zentrum ein goldgetriebener thronender Christus schmückt.Doch nicht nur die Herrscher, sondern auch die Erzbischöfe und Bischöfe des Reichs gaben Werke in Auftrag, die den Glanz der Epoche ausmachen. Erzbischof Egbert von Trier verfügte über eine Goldschmiedewerkstatt, die wohl im Trierer Kloster Sankt Maximin untergebracht war und zahlreiche Kostbarkeiten anfertigte: den oben erwähnten goldenen Buchdeckel des Echternacher Codex aureus, das Petrusstab-Reliquiar, den »Egbertschrein« (einen Tragaltar mit einer Sandale des Apostels Andreas als Reliquie) und das zugehörige Nagelreliquiar (einen vollständig mit einer Hülle aus Perlen, Edelsteinen und Email versehenen Nagel vom Kreuz Christi). Auch in Aachen, Köln, Essen, Mainz, Fulda, Hildesheim, Bamberg, Regensburg und auf der Reichenau - also an Bischofssitzen ebenso wie in Klöstern - wurden für das 10. und 11. Jahrhundert Goldschmiedewerkstätten vermutet oder nachgewiesen. Eine Reliquie, umhüllt von einem filigranverzierten Goldreliquiar, ist auch das »Zeremonialschwert« der Essener Äbtissinnen: Wie seine Inschrift besagt, ist es das »Schwert, mit dem unsere Patrone (gemeint sind Kosmas und Damian) enthauptet wurden«. Das »Lotharkreuz« im Aachener Domschatz, ein 50 cm hohes Vortragekreuz, in dessen Mitte sich ein Augustus-Kameo befindet, der mit dem Bild des gekreuzigten. Christus auf der Rückseite korrespondiert, wird meist mit Otto III. in Zusammenhang gebracht, wurde aber wohl erst im Auftrag Heinrichs II. gefertigt.Bischof Bernward von Hildesheim soll nach dem Zeugnis seines Biographen Thangmar sogar selbst als Metallkünstler tätig gewesen sein. Mit den beiden Silberleuchtern, dem Kreuz mit dem toten. Christus und der Krümme des Abtes Erkanbald, beide aus vergoldetem Silber, sind unter seiner Ägide Werke entstanden, denen sich im 10. und 11. Jahrhundert nichts Vergleichbares zur Seite stellen lässt. Vor allem aber ist Bernward wegen der von ihm wahrscheinlich für den Hildesheimer Dom gestifteten Bronzetüren und wegen der Bronzesäule berühmt geworden, die die Taten Jesu von der Taufe bis zum Einzug in Jerusalem verherrlicht und den antiken römischen Vorbildern der Trajan- und der Mark-Aurel-Säule folgt. Kirchentüren mit szenischen Darstellungen gab es zuvor nur aus Holz, etwa für Santa Sabina in Rom oder für Sant'Ambrogio in Mailand; diesen Vorbildern entsprechen, um die Mitte des 11. Jahrhunderts, die Holztüren von Sankt Maria im Kapitol zu Köln. Die großen Bronzetüren aber, die Karl der Große in Aachen und Erzbischof Willigis in Mainz hatten gießen lassen, waren - abgesehen von ihren Löwenköpfen - noch ohne figürlichen Schmuck gewesen. Die Türflügel des Doms in Augsburg (um 1065) bestehen aus mehreren auf einen Holzkern aufgenieteten Bronzeplatten, wohingegen die Türen in Aachen, Mainz und Hildesheim in einem Stück gegossen wurden: Dieses technisch riskante Unternehmen fand denn mit dem linken Flügel des südlichen Seitenschiffportals des Doms zu Gnesen auch erst wieder im 12. Jahrhundert Nachfolger.Aus dem 10. und 11. Jahrhundert stammen auch die ältesten erhaltenen monumentalen Skulpturen des Mittelalters. Neben den teilweise gänzlich mit Goldblech überzogenen Bildwerken sitzender Madonnen (in Essen, Hildesheim und Paderborn) überdauerten vor allem Großkruzifixe aus Holz, einige wenige auch aus Bronze. Das älteste erhaltene Großkruzifix überhaupt, das lebensgroße Gerokreuz im Kölner Dom mit dem herabhängenden Haupt, den gestreckten Armen und dem vorgewölbtem, gebogenem Leib des Gekreuzigten, wurde in vielen Kruzifixen des 11. Jahrhunderts variiert. Die Elfenbeinkunst, schon in karolingischer Zeit hoch entwickelt, gelangte vor allem an der Maas, der Mosel und am Rhein zu einer neuen Blüte. Elfenbein verwendete man jedoch nicht nur für Buchdeckel: Ganze Weihwasserkessel wurden aus Elfenbein gefertigt und ringsum mit Figuren versehen, die Platten des Magdeburger Antependiums dienten ursprünglich als Altarverkleidung.Gering an Zahl, doch sehr bedeutend sind die aus diesen Jahrhunderten erhaltenen, in unterschiedlichen Techniken hergestellten Textilien. Epochale Bedeutung als Kunstwerk und Geschichtsdokument besitzt der Teppich von Bayeux, obwohl er mit seiner Stickerei in Wolle auf Leinen handwerklich anspruchslos ist. Ein umfassendes heilsgeschichtliches Bildprogramm findet sich - wie auf dem späteren Genesisteppich von Girona - auf den beiden kaiserlichen Mänteln im Bamberger Domschatz: Der Heinrichsmantel verbindet Sterndarstellungen und Tierkreiszeichen mit einem Bild Christi und Mariens, um so die Regentschaft des Kaisers in Analogie zu Christi Herrschaft über das Himmelsgewölbe zu setzen; auf dem Kunigundenmantel werden typologische Beziehungen zwischen neu- und alttestamentlichen Szenen ausgebreitet. Noch älter ist die gestickte Decke des Ewald-Reliquiars in Sankt Kunibert zu Köln aus der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts. Trotz der Vergänglichkeit des Materials konnten auch verschiedene aus Seide gewebte Stolen aus dem 10. Jahrhundert und aus der Zeit um 1000 gerettet werden - auch sie künstlerisch durchdachte, aus den edelsten Materialien bestehende Zeugnisse der verfeinerten Kultur jenes Zeitalters.Prof. Dr. Ulrich KuderBernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen. Katalog der Ausstellung Hildesheim 1993, herausgegeben von Michael Brandt und Arne Eggebrecht. 2 Bände. Hildesheim u. a. 1993.Die gotische Architektur in Frankreich, 1130—1270, Beiträge von Dieter Kimpel und Robert Suckale. Studienausgabe München 1995.Das Jahrhundert der großen Kathedralen, 1140—1260, bearbeitet von Willibald Sauerländer. München 1990.Kubach, Hans Erich: Romanik. Neuausgabe Stuttgart 1986.Die Kunst der Romanik. Architektur, Skulptur, Malerei, herausgegeben von Rolf Toman. Köln 1996.
Universal-Lexikon. 2012.